Arbeitskarte Sacharij Kistetschok

Das ist Sacharij Kistetschok.

Geboren im Februar 1911 in Smolyn, Galizien, Westukraine.

Ein kleines Dorf, in dem Menschen aus vielen Kulturen zusammenlebten.

Smolyn, Galizien, Westukraine

Die Mehrheit der Einwohner*innen von Smolyn war griechisch-katholisch. Auch Sacharij.

Sie sprachen ruthenisch, polnisch und deutsch. Im Zweiten Weltkrieg besetzte zunächst die sowjetische Armee und im Juni 1941 die deutsche Wehrmacht den Ort. Ab 1945 war er Teil der Sowjetunion. Heute liegt Smolyn in der Ukraine.

Wir wissen nicht viel über ihn.

 

Aber, dass seine Mutter Anna hieß.

Bestätigung Anna Kistetschok

Und er nur wenige Jahre zur Schule ging – vielleicht im nächst größeren Ort Rawa-Ruska.

Rawa Ruska Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Er war 28 Jahre alt, als der Krieg zu ihm kam.

Die deutschen Besatzer rekrutierten mit leeren Versprechungen junge Arbeitskräfte fürs Reich.

Bayerische Staatsbibliothek München Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Heinrich Hoffmann.

Sacharij ließ sich offizielle Papiere auf Deutsch ausstellen.

Bestätigung Anna Kistetschok
Auf Sacharijs Bescheinigung steht statt Januar „Jänner“, ein Verweis auf die österreichisch geprägte Vergangenheit der Region.

Spätestens ab Mai 1942 warben die Nazis keine Menschen mehr an.

Illustration Bundesarchiv, Plak 003-042-008
Das Reichsarbeitsministerium lockte Menschen aus den besetzen Gebieten mit angeblich fairen Löhnen und Sicherheit an. Deren Briefe an ihre Familien zuhause erzählten aber eine andere Geschichte. Die Zahl der „Freiwilligen“ nahm ab.

Sie deportierten die Menschen stattdessen gegen ihren Willen.

Kiew Hauptbahnhof Bundesarchiv, Bild 183-R70660
Wenn Dörfer nicht die geforderte Zahl von Arbeiter*innen ablieferten, verschleppten die Nazis sie bei Razzien. Unter ihnen waren viele Frauen und junge Menschen, oft ganze Jahrgänge. Deutsche Arbeitsämter entschieden über ihren Einsatzort.

Sacharij kam als ziviler Zwangsarbeiter nach Bayern.

Karte Smolyn nach Bayern

In Sacharijs Arbeitsdokumenten ist er mal Ukrainer. Mal Pole.

Kürzel P für Pole
Sacharijs „P“ für Pole war wichtig, da die Nazis nach Nationalitäten unterschieden: Pol*innen waren etwas besser gestellt als Ukrainer*innen, arbeiteten öfter in der Landwirtschaft und erhielten etwas mehr Lohn. Gut ging es aber kaum jemandem.

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Arbeitskarte Sacharij Kistetschok
Die zivilen Zwangsarbeiter*innen mussten immer eine Arbeitskarte mit sich führen. Sie diente ihnen als Ausweis und war im Ernstfall wie eine Lebensversicherung. Ohne Arbeitskarte konnten sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Sein Arbeitsbuch verrät uns die weiteren Stationen seines Lebens:

Erst Landarbeiter. Dann Hilfsarbeiter in einem Sägewerk in Rott am Inn.

Später auf dem Milchbauernhof Prüller in Feldkirchen, Wasserburg.

Seine Arbeitgeber waren nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

Sacharij blieb in derselben Gegend, bis er starb.

Er sparte Geld, das er oder seine Familie nie zurückerhalten haben.

Arbeitskarte R
Zivile Zwangsarbeiter*innen konnten Teile ihres Lohns einzahlen, mit dem (falschen) Versprechen, das Geld später verzinst zurückzuerhalten. In seiner gesamten Zeit in Deutschland zahlte Sacharij 25 Reichsmark ein.

Das Versprechen nach Lohn und Sicherheit blieb eine Lüge.

In Sacharijs Brieftasche waren auch drei Postkarten.

Postkarte
Briefwechsel zwischen den über Deutschland verteilten zivilen Zwangsarbeiter*innen waren schwierig, der Zensur unterworfen und nur sporadisch möglich.

Von seinem Bruder Mychajlo. Vielleicht ein Halbbruder?

Sacharij bewahrte die Briefe am sichersten Ort auf, den er hatte: An seinem Körper.

Sie müssen ihm viel wert gewesen sein.

Im Frühjahr 1943 war Sacharij für zwei Wochen im Krankenhaus in Wasserburg.

Tabelle Rot
Zivile Zwangsarbeiter*innen mussten krankenversichert werden. Arbeitgeber behielten dafür oft einen Teil ihres Lohnes ein. Wenn sie krank oder verletzt waren, wurden sie trotzdem meist schlechter behandelt als deutsche Patient*innen.

Entlassung am 8.5.43 mit der Notiz „gebessert und arbeitsfähig“.

Wir wissen, dass er Anfang 1944 Passfotos brauchte.

Ohne offizielle Erlaubnis durfte Sacharij nicht zum Fotografen fahren.

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Wasserburg
Zivile Zwangsarbeiter*innen durften sich nicht frei bewegen. Um öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, brauchten polnische und sowjetische Zwangsarbeiter*innen eine schriftliche Erlaubnis, sonst drohte ihre Inhaftierung.

Für die Fotos hat er sich vermutlich extra einen sauberen Anzug geborgt.

Portrait Sacharij Kistetschok

Ein Foto kündigte er Mychajlo an, schickte es aber nie ab.

Im März 1944 erhielt er ein neues Arbeitsbuch.

Er sollte es nur wenige Wochen brauchen.

Sacharij stirbt am 31. März 1944 in Wasserburg am Inn im Krankenhaus.

Sterbeurkunde Sacharij Kistetschok / Wasserburg am Inn

Todesursache „Quetschungen am Kopf, Schädelbruch“.

Papier

Aber was steckt hinter dieser Todesursache?

War es ein Arbeitsunfall? Oder Gewalt?

In einer Liste über Ausländer in Wasserburg steht auch eine „Harnvergiftung“ als Todesursache.

Was wirklich passiert ist, wissen wir nicht.

Sacharij wurde am 1. April 1944 auf dem städtischen Friedhof im Hag beigesetzt.

Lageplan städtischer Friedhof im Hag Stadtarchiv Wasserburg a. Inn, VR1014‐a (=Gräberplan Altstadtfriedhof, Im Hag 7).
Kennzeichnung Grabstelle Sacharij Kistetschok, M.Haupt.

Sein Grab wurde in den 60er Jahren neu vergeben.

Eine Gedenktafel erinnert heute auf dem Friedhof an die dort beerdigten Zwangsarbeiter*innen.

Gedenktafel Gedenktafel auf dem Friedhof in Wasserburg

Sacharijs Brieftasche wurde 1950 im Büro des Area Child Care Officers in München gefunden.

Brieftasche

Ein Zufallsfund. Niemand kann sich erklären, wie sie dorthin gekommen ist.

Nur dadurch ist es möglich, einen kleinen Teil von Sacharijs Schicksal nachzuvollziehen.

2019 findet das Ukrainische Rote Kreuz Lidija, die Tochter seines Bruders Mychajlo.

Mychajlos Tochter Lidija Mychajlos Tochter Lidija

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Mychajlos Tochter Lidija

Nach 75 Jahren kommen die Gegenstände zurück zu Sacharijs Familie.

Für Lidija sind diese Erinnerungsstücke ein wertvoller Schatz. Sie wünscht sich Mychajlo hätte sie bekommen.

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